Die Lage der Flüchtlinge an der Nordsee- und Ärmelkanalküste: Das Gesetz des Stärkeren Bericht der Untersuchungskommission, Mai bis Juli 2008

Die Initiative für Asylrecht (Coordination française pour le droit d’asile, CFDA) die aus einem Zusammenschluss von ca. 20 französischen NGOs besteht, hat zwischen Mai und Juli 2008 die Lage der Flüchtlinge im Nordosten Frankreichs untersucht. Schätzungsweise 1500 Personen, unter ihnen überwiegend Afghanen, Eritreer, Äthiopier, Iraker, Somalier und Sudanesen suchen in Europa vergeblich einen Ort, um sich niederzulassen. Aus den von ihnen durchreisten Ländern abgeschoben und ausgewiesen, stranden sie an der französischen Nordseeküste. Von dort aus schaffen nur wenige die Überfahrt nach Groß-Britannien, andere versuchen ihr Glück in Nordeuropa. Ständig kommen neue Flüchtlinge an. Sie überleben versteckt in Wäldern oder in abbruchreifen Häusern, sie werden von der Polizei verfolgt und belästigt. Seitdem das 1999 eröffnete und 2002 wieder geschlossene Auffanglager Sangatte (bei Calais) keine Zuflucht mehr bietet, besiedeln die Flüchtlinge ein immer größeres Gebiet in der Region [1].

Um mit den aus Afrika, dem Nahen Osten und Zentralasien stammenden Flüchtlingen in Kontakt zu kommen, mussten Mitglieder von CFDA sechs Départements (Pas-de-Calais, Somme, Seine-Maritime, Calvados, Manche und Paris) die sich über 5 verschiedenen Regionen erstrecken (Nord-Pas-de-Calais, Picardie, Haute et Basse-Normandie, Ile-de-France), aufsuchen. Vor der Schließung des Auffanglagers von Sangatte konzentrierte sich die Mehrzahl dieser Flüchtlinge auf dieses, nahe von Calais und nur 12 km von der britischen Küste, entfernt liegende Lager. Obwohl das Lager bereits seit 6 Jahren geschlossen ist, bleibt die Region aufgrund ihrer zentralen Position attraktiv für Flüchtlinge.

Drei Monate dauerte die Untersuchung, die sowohl Interviews mit Flüchtlingen, ehrenamtlichen Betreuern als auch mit Vertretern der Verwaltung und der Sicherheitskräfte beinhaltet. Was kann aus der Vielfalt von Informationen und Sichtweisen geschlossen werden?

Mit 1000 bis 1500 Personen liegt die tatsächliche Zahl der Flüchtlinge deutlich höher als Vertreter der Verwaltung zugeben. Sie leben in unterschiedlich großen Gruppen zusammen und versuchen in irgendeiner Form nach Großbritannien oder in die nordeuropäischen Länder zu gelangen. In Calais, wo zu Zeiten des Auffanglagers bis zu 1500 Personen untergebracht waren, lebt heute nur noch ein Drittel der befragten Flüchtlinge. Auch wenn die Häfen weiterhin eine wichtige Anlaufstelle für sie bleiben, konzentriert sich die Mehrheit inzwischen entlang der Autobahnen sowie in der Nähe großer Raststätten und LKW-Parkplätzen.

Die Flüchtlinge stammen vorwiegend aus den von Krieg und Bürgerkrieg gekennzeichneten Ländern, wie Afghanistan, Eritrea, Äthiopien, Irak, Somalia und dem Sudan. Ihre Vorgänger haben, nachdem sich die Situation in ihren Heimatländern stabilisiert hat, mehrheitlich Europa verlassen.

Dass Frankreich und die meisten europäischen Staaten die Rechtmäßigkeit der Flucht der betroffenen Personen nicht in Frage stellen, zeigt sich daran, dass Abschiebungen in die Herkunftsländer die Ausnahme darstellen. Trotz dieses Verständnisses, das den Flüchtlingen einerseits entgegengebracht wird, stoßen sie auf eine Vielzahl von administrativen und juristischen Hindernissen, die sie zu einem Leben in Illegalität und Armut zwingen. Eines dieser Hindernisse ist zweifelsohne die sogenannte Dublin-Regelung, die die Zuständigkeiten für Asylantragsteller regelt. So ist der erste Staat, in dem eine Person erkennungsdatlich erfasst wird, sowohl für die Prüfung des Asylantrags, als auch für eine eventuelle Abschiebung zuständig. Personen, die in einem anderen europäischen Land aufgegriffen werden, werden per Dublin-Regelung in den ursprünglichen Staat zurückgeschoben. Diese Regelung verhindert zum einen, dass die Flüchtlinge sich im Land ihrer Wahl niederlassen können und zum anderen zwingt es sie, in den Peripheriestaaten der EU zu leben, wo sie aus verständlichen Gründen nicht leben möchten.

Dass bei diesem Vorgehen auf die Bedürfnisse und Wünsche der Flüchtlinge keine Rücksicht genommen wird, ist nur ein Teil des Flüchtlingsdramas. Wichtiger noch ist die Tatsache, dass aufgrund der Dublin-Regelung, Personen wie heiße Kartoffeln quer durch Europa gereicht werden, da jeder Staat die Verantwortung auf einen anderen abwälzt. Oft folgt auf eine Rückführung in einen bereits durchreisten europäischen Staat (Dublin-Regelung) eine Haftstrafe. Ist diese abgesessen, machen sich die meisten wieder auf den Weg in die Länder, wo sie aufgrund von familiären Beziehungen oder Sprachkenntnissen bessere Chancen auf Integration und Schutz ihrer Person vermuten.

Seit über 20 Jahren leben nun schon Flüchtlinge im Raum von Calais. Seitdem wurden hier verschiedene Strategien getestet, deren Ziele letztendlich ausschließlich darin lagen, durch menschenunwürdige Prozeduren die Ankunft weiterer Flüchtlinge zu verhindern. Als ob der einzige Grund aus seinem Heimatland zu flüchten darin läge, in einem unbekannten Land einen Lebenskomfort zu finden, über den von Krieg und Armut geprägte Länder nicht verfügen.

Dieses völlig irreale und unerreichbare Ziel der eingeführten Prozesse und Prozeduren haben selbstverständlich nie das gewünschte Ziel- die Ankunft von Flüchtlingen zu stoppen- erreicht. Da sich die Verwaltung diesen Fehlschlag nicht eingestehen konnte und weiterhin Flüchtlinge nach Calais gelangten, beschloss die Verwaltung ihre Unfähigkeit dadurch zu verschleiern, dass sie die Flüchtlinge von der Öffentlichkeit fern hielten. So erklärt sich auch die Entstehung des Auffanglagers von Sangatte. Der Bericht von CFDA legt den Schwerpunkt auf die Auswirkungen dieser Politik für die betroffenen Personen.

Die von den Flüchtlingen angestrebte Unsichtbarkeit, jenes Sich-versteckthalten, spielt der Verwaltung in die Hände, auch wenn es zur Folge hat, dass immer mehr lagerähnliche Strukturen entlang der französischen Nord- und Ärmelkanalküste entstehen. Die Flüchtlinge suchen den Schutz der Unsichtbarkeit, um vor der Verwaltung und Polizei sicher zu sein. Diese wiederum gehen rücksichtslos gegen die Flüchtlinge vor, um sie in ihrer Unsichtbarkeit zu halten. Dieser Teufelskreis erlaubt es der Verwaltung in der Öffentlichkeit die Existenz der Flüchtlinge zu verheimlichen bzw. sie als Phänomen zu minimalisieren. Dass, die Flüchtlinge eine Anzahl von Rechten haben (Asyl, Schutz von Minderjährigen, Recht auf eine Unterkunft, auf eine gesundheitliche Grundversorgung etc.) tritt dabei völlig in den Hintergrund. Da diese Personen offiziell nicht existieren, reichen ein paar humanitäre Gesten völlig aus, um zumindest ihr Überleben zu sichern. Weit weg von der Öffentlichkeit können so Verwaltung und Polizei ungestört gegen Flüchtlinge vorgehen.

In diesem Kontext ist es kaum verwunderlich, dass immer mehr Flüchtlinge zumindest vorübergehend Frankreich verlassen, ob freiwillig oder abgeschoben, um später wieder zurück zu kehren. Was wiederum die noch in ihren Heimatländern lebenden Flüchtlinge betrifft, ob nun über die französische Gastfeindlichkeit im Bilde oder nicht, ändern diese ihre Fluchtpläne aus den Krisengebieten nicht.

Auch wenn die gewaltsamen Übergriffe, ob symbolischer, physischer, administrativer oder rechtlicher Natur, keinen Einfluss auf die Anzahl der Flüchtlinge haben, so bestätigen sie doch das stetige Abdriften von Grund-und Menschenrechten in Frankreich und der EU.

Langsam aber sicher erhört sich die Anzahl der „Calais“: Patras in Griechenland, die spanischen Enklaven von Ceuta und Mellila in Marokko, die kanarischen Inseln, Malta, Lampedusa sowie der gesamte Süden der italienischen Halbinsel und die französische Insel Mayotte im Pazifik. Wie in Calais versucht auch hier die Verwaltung durch Abschreckung, menschunwürdige Auffanglager und Missachtung der Menschenrechte die Ankunft von Flüchtlingen zu verhindern.

Europaweit wird der Umgang mit Flüchtlingen an das Modell von Calais angepasst, obwohl die seit Jahrzehnten dauernden Entwicklungen gezeigt haben, dass die Situation in Nordwest Frankreich weder den Ansprüchen der Flüchtlinge noch den internationalen Richtlinien und Konventionen gerecht wird. CFDA hat daher das Ziel, das Interesse auf die in Calais gescheiterte Politik zu lenken und somit die überall in Europa und darüber hinaus angewandte Politik zu kritisieren.

4. September 2008

Trad. Johanna REYER


Bericht der Untersuchungskommission

Anmerkungen

[1Der Bericht umfasst 183 Seiten und kann ab dem 4. September 2008 auf der Webseite herunter geladen werden.